Salzburger Nachrichten
8. Nov. 2001

Kaprun: Offene Wunden

Ein Jahr nach der Tunnelkatastrophe vom 11. November 2000 gibt es viele offene Fragen, offene Wunden, offene Rechnungen und offene Gräben.

Kann ein Ort des Grauens Frieden ausstrahlen? Ja. 1200 Meter, 3000 Stufen und 150 Menschenleben vom Talboden entfernt, dort, wo am Samstag, den 11. November 2000 knapp nach neun Uhr ein Inferno losbrach, ist dieser Friede spürbar. 150 kleine Kreuze und Kerzenhalter wurden in den Fels montiert. Namensschilder, jeweils an den exakten Fundorten angebracht, erinnern an jene, die hier starben. Darunter waren sehr viele junge Menschen und Kinder. Mit ihrem Tod hauchte für viele Hinterbliebene auch der Glaube an die Zukunft das Leben aus.

80 Angehörige waren bisher im Tunnel

Angehörige, die die Möglichkeit der Tunnelbegehung in Begleitung eines umfangreichen Betreuungsteams nutzten - das taten bislang 80 Hinterbliebene von 36 der 150 im Tunnel gestorbenen Opfer -, hätten die Situation durchaus als Befreiung erlebt, sagt Peter Fässler-Weibl. Der Schweizer Psychologe entwickelte und setzt das Betreuungsprogramm für die Hinterbliebenen um. Morgen, Freitag, gibt es die vorerst letzte Begehung. Mit Angehörigen aus Japan.

Was mit dem Tunnel in Zukunft geschehen wird, ist offen. Er dürfte als Versorgungsstollen für das Gletscherskigebiet erhalten bleiben. Skifahrer werden durch ihn sicher nie mehr zum Kitzsteinhorn gebracht. Das steht fest.

Angehörige, die den langen Marsch in den Tunnel auf sich nahmen - 3000 Stufen bis zur Unglücksstelle, 2000 Stufen bis zum Ausstieg durch einen 600 m langen Querstollen -, stellten dort Bilder ihrer Lieben auf. Hinterlegten Blumen. Teddybären. Schriftliche Botschaften. Fein säuberlich gefaltet, um Zwiesprache mit denen zu führen, die an diesem strahlenden Novembertag des Jahres 2000 auf der Fahrt zum Gletscher im giftigen Rauch ums Leben kamen. Im Bereich der Talstation wurde ein Kreuz aufgestellt. Eine Gedenktafel weist auf die 155 Toten hin. Jeden Tag bringen Trauernde neue Blumen und Kerzen.

Wo die immer wieder geforderte, dauerhafte Gedenkstätte in Kaprun entstehen soll, ist noch offen. Vermutlich wird es im Umfeld der Pfarrkirche, mit Blick auf das Kitzsteinhorn, sein.

Der Ort Kaprun, die Region, das Land waren nach diesem schrecklichsten Seilbahnunglück, das Österreich je widerfuhr, wie gelähmt. Tagelang. Wochenlang. In Kaprun selbst hatte man sechs Todesopfer zu beklagen. Der Ort stand zugleich unter medialer Dauerbelagerung.

In die Grabesstille des Schockzustandes mischten sich aber mehr und mehr zornige Zwischenrufe. Hinterbliebene und deren Rechtsanwälte sprachen davon, dass eine Kette haarsträubender Schlampigkeiten und menschlicher Unzulänglichkeiten den Tod der 155 Menschen (150 starben im Tunnel, drei in der Bergstation, zwei im talwärts fahrenden Zug) verursacht hätten. Sie forderten Antworten - die sie nicht bekamen. Opferanwalt Ed Fagan reiste nach Kaprun. Milliardenklagen wurden angedroht. Fagan im Gegenzug vorgeworfen, er instrumentalisiere die Hinterbliebenen für seine Zwecke. Der US-Advokat warf wiederum den österreichischen Gerichten eine Verschleppung der Untersuchungen und eine völlig unzureichende Informationspolitik vor.

Während die Ermittlungen der Kriminalisten und die Untersuchungen der Brandsachverständigen auf Volltouren liefen, machten sich die Gletscherbahnen Kaprun (GBK) daran, Zukunftspläne zu schmieden. Man entschied sich für einen oberirdischen Zugang zum Gletscher mit zwei Sektionen. Mit der Umsetzung der Pläne stattete der Aufsichtsrat der GBK im Frühjahr die Vorstände Peter Präauer und Manfred Müller aus. Fünf Banken beteiligen sich an der Finanzierung. Ein Angebot des Landes lehnte die GBK ab. LHStv. Wolfgang Eisl (ÖVP) stellte 50 Mill. S in Aussicht, forderte im Gegenzug aber 40 Prozent Beteiligung am Grundkapital der GBK ein. In Kaprun reagierte man empört, nannte das ein 'unmoralisches Angebot'.


Hinterbliebene bauten Internet-Plattform auf

Am 11. Mai 2001, ein halbes Jahr nach dem Unglück, stellten Hinterbliebene aus Wien an der Straße Richtung Gletscherbahn 155 Holzkreuze auf, verwehrten sich gegen eine 'Entmündigung durch die GBK' und forderten den Rücktritt der Gletscherbahn-Direktoren Prä-auer und Müller.

Um den Hinterbliebenen eine gemeinsame Plattform zum Meinungsaustausch zu bieten, wurde von der 'Wiener Gruppe' eine eigene Homepage im Internet eingerichtet (www.kapruntunnelkatastrophe.at). Jeden Mittwoch ab 21 Uhr gibt es die Möglichkeit eines Chats für Betroffene. Opferangehö-rige aus Wien initiierten auch jene Gedenkwanderung, die am kommenden Sonntag, dem ersten Jahrestag, stattfindet. Der Plan des Landes, in der Salzburger Residenz 'ohne jedwede Abstimmung oder Rückfrage bei den Angehörigen ein offizielles Gedenken zu inszenieren', wurde massiv abgelehnt und nach Boykottdrohungen abgesagt. Das Gedenken der Salzburger Landesregierung wurde auf das Requiem von Mozart am Samstag, 10. November 2001 (18.30 Uhr), in der Stiftskirche St. Peter reduziert.

 

Keine Interviews mit den Helfern

KAPRUN (SN-heba). Der erste Jahrestag der Seilbahnkatastrophe von Kaprun wird im Zusammenwirken der Angehörigen und der Gemeinde organisiert. Die Gestaltung der Trauerfeier übernehmen Hinterbliebene. Die Gemeinde sorgt für entsprechende Rahmenbedingungen. 100 freiwillige Helfer aus Kaprun sind in die Organisation mit eingebunden.

Da abermals ein großer medialer Andrang zu erwarten ist - sogar aus Australien reisten Journalisten an - wird im 'Optimum' ein Pressezentrum eingerichtet. Die Kapruner Jugenherberge wird wieder als Angehörigenzentrum adaptiert.

Zentraler Punkt des Jahrestages ist die Gedenkwanderung vom Ortszentrum zur Talstation der Gletscherbahn (Abmarsch 7.15 Uhr) mit anschließender Gedenkstunde.

Am Nachmittag werden Opfer-Angehörige eine Pressekonferenz geben. Eine Stunde später treten Kapruns Bürgermeister Norbert Karlsböck, Pfarrer Peter Hofer und Erika Scharer (Leiterin des Angehörigenzentrums) gesondert vor die Presse.

Die freiwilligen Mitarbeiter sind angehalten keine Interviews zu geben. Sie können sich nur über die persönliche Befindlichkeit und die Stimmung im Ort äußern. Sie dürfen weder zum Thema Gletscherbahn noch zu Schulfragen Stellung beziehen. 'Es geht hier um ein schwebendes Verfahren. Widersprüchliche Aussagen sind kontraproduktiv. Interviewünsche können bei der Infostelle im Pressezentrum deponiert werden. Wir leiten sie an den Sprecher der Gletscherbahnen, Harald Schiffl, weiter', erklärte Erika Scharer den SN.

Die Gedenkstätte im Bereich der Gletscherbahn-Talstation bleibt für Medienvertreter gesperrt. Ihnen wird ein eigener Sektor zugewiesen. In der Pfarrkirche werden Kamerateams und Fotografen ebenfalls keinen Zutritt haben. Gleiches gilt für das Angehörigenzentrum in der Jugendherberge.

Bürgermeister Norbert Karlsböck (SPÖ): 'Die Rechtsprechung obliegt den Gerichten. Am Gedenktag sind Spekulationen vor laufenden Kameras unangebracht. Dieser erste Gedenktag ist ein markantes Ereignis. Die Trauer steht im Vordergrund. Kaprun will den Angehörigen an diesem Tag die bestmögliche Unterstützung bieten.' Jene Opfer-Angehörigen aus Wien, die die Gedenkwanderung initiierten, teilen auf ihrer Homepage (www.kaprun-tunnelkatastrophe.at) mit: 'Grundsätzlich konnten wir klar machen, dass sich unsere Vorwürfe gegen die Gletscherbahnen Kaprun richten, nicht aber gegen die Gemeinde und die Gemeindeangehörigen, die durch die Katastrophe selbst schwer betroffen sind.' Das Gerichtsverfahren werde aufzeigen, 'wer die Verantwortung für diese größte Katastrophe in Österreich nach dem zweiten Weltkrieg zu tragen und durch das Zulassen unvorstellbarer Mängel und Schlampereien den Tod so vieler junger hoffnungsvoller Menschen verschuldet hat.' Die Trauer der Angehörigen könne dadurch 'aber nicht gelindert werden'.

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